|
|
Zwischen
zwanzigtausend Hufen: Rentierscheidung in Nordschweden, Seite
1 von 1 [zurück]
Rhythmisches Grunzen und ein milder Geruch nach Pferd erfüllt
den kalten, klaren Septembertag auf dem Fjäll. Im Kral dreht
sich ein gewaltiges Geweihgewimmel wie ein riesiger Wirbel gegen den
Uhrzeigersinn. Junge Rene rufen unentwegt nach ihren Müttern,
die Mütter nach ihren Jungen. In den vergangenen Tagen sind sie
mit Hubschraubern, Enduros, Quads hierhin zusammengetrieben worden.
Menschen umfließt die endlose Herde sacht ohne jegliche Berührung,
wie Wasser einen Butterklecks. Mitten im Strom aus Renleibern stehend,
spüren wir auch ohne Kontakt ihre Wärme.
Zwischendurch sausen blaue, orange, grüne Lassos über die
Köpfe der gut fünftausend Tiere hinweg, längst nicht
nur von Männern geworfen. Wenige Jungtiere sind noch unmarkiert.
Die Sami hocken sich über ein gefangenes Kalb, mit geschickten
Schnitten fliegen ein paar Stückchen Ohr, und schon sind die
Besitzverhältnisse für immer klar. Nach kaum einer Minute
springt das Kalb entsetzt auf und davon.
Nicht allen Rentieren ergeht es so gut, wenn sich im Herbst ein Lasso
in ihrem Geweih verheddert hat und Menschen sie Fischen gleich einholen:
Etliche junge Männchen erwartet die Kastration, viele andere
Bullen der Tod. Kurz vor der Brunft ist Schlachtzeit; die Bullen sind
dann fettgefressen für die entbehrungsreiche Paarungszeit. Erbittert
wehren sich die Tiere gegen ihre Festnahme, stremmen mit aller Kraft
die breiten Hufe in den Boden. Doch gegen drei, vier entschlossene
Sami können sie nichts ausrichten, zumal es nicht einem einzigen
Renbullen in den Sinn kommt, sich mit seinem Geweih zu verteidigen.
Bald wird seine Stirn gegen einen in den Boden gerammten Pfahl gedrückt
und so sein Kopf fixiert, das Lasso von seinem Geweih gepult. Dann
stürmt das erschöpfte Tier durch ein Türchen im Gatter
in die scheinbare Freiheit: Einen eingezäunten Korridor, der
sie direkt in die einige Kilometer entfernte Schlachtanlage laufen
läßt.
Zwei-, dreijährige Kinder laufen zwischen dem Meer von Hufen
hindurch, Messer baumeln ihnen am Gürtel und reichen bis in die
Kniekehlen, die aufgenommenen Lassos schleifen auf dem Boden. Manche
tragen Mützen in den traditionellen Farben und Formen der Sami.
Sie turnen auf den wackeligen Drahtzäunen, gegen die unten wild
die gefangenen Renbullen donnern. Andere spielen mit dem toten Jungbullen,
den zwei Frauen gerade für den Eigenbedarf am Rand des großen
Wirbels mit einem einzigen kleinen Messerstich getötet haben.
Niemand kommandiert sie, niemand brüllt ihnen alle zwei Sekunden
zu, sie sollen dies- und deswegen aufpassen. Wie wohltuend ruhig die
Sami ihre Kinder eigene Erfahrungen machen lassen. Frauen wie Männer
haben sogar noch Zeit, ihnen ein Lächeln zuzuwerfen, während
sie seit Stunden Schwerstarbeit im Kral leisten.
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|